Umgang mit Neurodiversität & Vielfalt im Klassenzimmer
LRS, Dyskalkulie, ADHS: all diese Diagnosen und Störungen begegnen uns häufig in der Schule – dabei hat sich in den letzten Jahren auch der Begriff der Neurodiversität etabliert. Was sich hinter dem Begriff der Neurodiversität in der Schule verbirgt und wie du neurodiverse Schüler*innen in deinem Unterricht unterstützten kannst, erfährst du im Gastbeitrag von Julia Thurner.
Das Recht auf inklusive Bildung durch die UN-Behindertenrechtskonvention gilt seit 2009 auch in Deutschland. Die Umsetzung hingegen verläuft sehr schleppend, in manchen Bundesländern steigt sogar die Anzahl an Schüler*innen, die „exklusiv“ beschult werden, dabei sollten sich die Schulen doch immer mehr dahingehend entwickeln, eine Schule für ALLE zu werden.
Da wir bei dem Thema meiner Meinung nach unbedingt unseren Blick auf die Kinder und Jugendlichen verändern müssen, um diese noch mehr an ihren Stärken zu sehen, anstatt ihre Defizite und Störungen zu dokumentieren, ist es mir wichtig, den Begriff der Neurodiversität in der Schule zu verbreiten. Denn in Unternehmen spielt das Thema bereits seit Jahren eine große Rolle im Bereich der Personalgewinnung und wie erfolgreiche Zusammenarbeit im Team gestaltet werden kann.
Neurodiversität in der Schule – Was ist das?
Während der Begriff der Neurodiversität bereits in der Berufswelt verankert ist, so stößt dieser im schulischen Kontext eher auf fragende Gesichter. Ich persönlich bevorzuge den Begriff der Neurodiversität auch in der Schule, da er seinen Fokus auf die „Vielfalt“ unserer neurologischen Fähig- und Fertigkeiten legt. Gerade im Bereich der Diagnostik wird meist eher von „Störungen“ gesprochen – dabei wird betont, was nicht geht oder auffallend anders ist. Stärken von neurodiversen Personen werden kaum in den Vordergrund gestellt.
Der Begriff selbst setzt sich aus den beiden Bausteinen “Neuro”(Nerven) und “Diversität”(Vielfalt) zusammen. So versteht man unter dem Begriff der Neurodiversität, dass neurobiologische Unterschiede zur Vielfalt der Gesellschaft gehören und nicht in unterschiedliche Störungen oder Diagnosen unterteilt werden müssen.
Und wer ist jetzt neurodivers?
Die Gruppe der Personen, die unter den Begriff „Neurodiversität“ fallen ist groß. Neben den im schulischen Kontext am häufigsten auftretenden Lernenden mit LRS, Dyskalkulie, Autismus, AD(H)S und Depressionen, gehören dazu noch Schüler*innen mit Tourette-Syndrom, Entwicklungsverzögerungen und unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Einen guten Überblick kann man sich mit der Grafik des FORRTproject, adaptiert von Lisa Chapman, verschaffen.
Da der Begriff noch sehr jung ist, zählen manche Nutzer*innen z.B. noch Hochbegabung und Hochsensibilität dazu.
Julia Thurner unterrichtet in der Montessori-Schule in Herzogenaurach Englisch und Spanisch in der Sekundarstufe. Sie ist außerdem am Institut für Pädagogik und Schulpsychologie in Nürnberg als Medienpädagogin in der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften beschäftigt und begleitet Schulentwicklungsprozesse rund um digitale Medien sowie neue Lehr- und Lernkulturen. Als Montessori-Pädagogin legt sie großen Wert auf ansprechende Materialien, sowohl für den Unterricht als auch für die Bewerbung von Fortbildungsveranstaltungen und ihrer Workshops.
Tipps für Neurodiversität in Schule & Unterricht
Was kann ich für neurodiverse Schüler*innen tun?
Wichtig ist eine offene und zugewandte Haltung gegenüber dem Kind/Jugendlichen. Der Blick sollte weg von dem Fokus auf Störungen, hin zu den individuellen Stärken gehen. Ganz nach dem Vorbild des Growth Mindset. Schüler*innen lernen so, dass sie selbst ihre Stärken und Fähigkeiten weiterentwickeln können und dass ihre Fähigkeiten und Leistungen von keiner Diagnose begrenzt werden. Fehler werden so als Helfer verstanden und bieten immer eine Chance, sich zu verbessern.
Für viele Hilfs- und Unterstützungsangebote im Unterricht sowie Nachteilsausgleiche wird allerdings eine diagnostizierte „Störung“ vorausgesetzt, was nicht selten dem Selbstwert des Kindes schadet. Umso wichtiger ist es, sich zusammen mit dem Kind auf die individuelle Stärkensuche zu machen. Hier ein Beispiel der Autorin Daniela Schreiter, die auch empfehlenswerte Graphic Novels zum Thema „Autismus“ gezeichnet hat.
Struktur vorgeben
Ich plane beispielsweise meinen Unterricht immer so, dass meine Schüler*innen bereits zum Wochenstart einsehen können, was inhaltlich im Laufe der Woche auf sie zukommen wird. Dafür nutze ich unsere Lernplattform und vermerke z.B. auch, wer in Differenzierungsphasen mit wem und an welchem Thema arbeiten wird, und hinterlege das Material. So können Schüler*innen bereits am Montag die Struktur für die Woche einsehen.
Schriftarten
Wenn ich für die Schüler*innen digitale oder gedruckte Materialien erstelle, achte ich auf serifenlose Schriftarten. In der Vergangenheit habe ich meist die Schriftart OpenDyslexic, die speziell für Menschen mit Legasthenie entwickelt wurde, verwendet. In der Praxis als auch in der Forschung ist man sich mittlerweile nicht einig, ob sie einen wirklichen Nutzen hat. Ältere Schüler*innen frage ich direkt, was ihnen hilft. Solltet ihr Zugriff auf Microsoft Produkte haben, so empfehle ich den „Plastischen Reader“, dort können sich die Schüler*innen die Textdarstellung anpassen, sich den Text vorlesen lassen und es ist sogar ein Übersetzungstool integriert.
Maria Montessori
Jede*r kennt das berühmte Zitat von Maria Montessori „Hilf‘ mir es selbst zu tun.“ Nach diesem Leitbild gestalte ich meinen Lernraum, bedenke die Bedürfnisse aller Schüler*innen, die #mitgedacht zu einer besseren Bildung für alle führt.
Im Klassenraum
Wenn möglich, stelle ich den Schüler*innen unterschiedliche Sitzmöglichkeiten zur Verfügung. D.h. sie können am Teppich arbeiten, in einer kleinen Leseecke mit Kissen und Decken, und an unterschiedlichen Tischen, die z.B. vor dem Fenster stehen oder sogar in der Ecke, mit Blick gegen die Wand. Je nach Alter bedarf es mehr oder weniger Begleitung bei der Wahl des passenden Arbeitsplatzes. Nach Arbeitsphasen kann hier ein Reflexionsauftrag für alle Schüler*innen erfolgen, um die Auswahl des richtigen Arbeitsplatzes gemeinsam zu besprechen.
Mein Arbeitsplatz
Neben der Wahl des Arbeitsplatzes, ist auch die Ordnung auf selbigen ein Thema. Da das nicht nur in der Schule, sondern auch zuhause relevant ist, habe ich mit meinem Schüler*innen eine Challenge zum Aufräumen unserer Schreibtische zuhause gemacht. Wir haben exemplarisch meinen chaotischen Schreibtisch angeschaut und besprochen, was helfen würde. Sie haben Fotos von ihren Schreibtischen gezeigt und dann hatten wir alle eine Woche Zeit, um aufzuräumen. Neben dem Thema „Struktur“, kam hier der Spaß nicht zu kurz. Während des Distanzunterrichts hatten einige meiner Schüler*innen dann ihren aufgeräumten Schreibtisch als Hintergrund 😉