Diklusion: Inklusion im digitalen Fernunterricht

Digitaler Fernunterricht stellt gerade einige Hürden dar. Aber wie kann dieser inklusiv aufbereitet werden, sodass alle Schüler*innen mit an Bord geholt werden können? Darüber haben wir mir Lea Schulz gesprochen. Sie ist Studienrätin und begleitet Schulen in der digital-inklusiven Schulentwicklung. Im Interview erklärt sie, was genau der Unterschied zwischen Inklusion und Integration ist, was im inklusiven Fernunterricht beachtet werden sollte und warum ihr Diklusion so wichtig ist.

„Jede Schülerin und jeder Schüler sollte die Möglichkeit erhalten, an Bildung teilzuhaben“

Lea, seit mehreren Jahren wird immer wieder über Inklusion in Schulen gesprochen und diskutiert. Aber was genau heißt Inklusion denn eigentlich? Und was ist dabei auch der Unterschied zu Integration?

Lea Schulz: Ich gehe bei meiner Definition von Inklusion in Bezug auf das Bildungssystem vom international geprägten Blick im Sinne einer “Bildung für alle” aus, der unabhängig von Förderschwerpunkten alle Diversitätsebenen miteinbezieht. Jede Schülerin und jeder Schüler sollte die Möglichkeit erhalten, an Bildung teilzuhaben, und ein Recht auf das Lernen in der sogenannten Zone der nächsten Entwicklung zu besitzen.

Inklusion bedeutet, dass wir sowohl den Schüler berücksichtigen, der aufgrund einer Erkrankung der Mutter derzeit Schwierigkeiten hat, dem Unterricht zu folgen, oder die Schülerin, die auf einem Auge nicht gut sehen kann, ebenso wie den Schüler, der mit Deutsch als Zweitsprache aufwächst oder die Schülerin, die es schwer hat, sich in soziale Gruppen einzufügen, und viele mehr.

Jeder hat ein Recht auf Bildung, auch wenn er nicht in eine Schublade hineinpasst, die vom System geschaffen worden ist. Inklusiv sind unsere Schulen leider noch lange nicht. Solange immer noch von “Inklusionskindern” gesprochen wird, haben wir ein systematisch aussonderndes Schulsystem mit einer fehlenden inklusiven Grundhaltung der Bildungsakteure noch nicht verlassen können.

**„Für einige Schüler*innen hat diese lehrerzentrierte Unterrichtsform vor allem deshalb Nachteile, da fehlende Kooperation und Individualisierung sie häufig scheitern lassen.“**

Dies beschreibt dann auch den Unterschied zur Integration. Bei einer integrativen Beschulung (und meines Erachtens sind wir in unserem häufig segregierenden Schulsystem an nur wenigen Standorten darüber hinaus gekommen), werden Schüler*innen anhand von Merkmalen in Gruppen eingeteilt, meistens vor dem Hintergrund, dass diese vermeintlich homogenen Gruppen dann durch zusätzliche Kurse oder eine andere Methodik im Unterricht besser unterstützt werden können. Dieser Trugschluss erschließt sich einem spätestens dann, wenn man einmal in einer Kleingruppe mit acht im Bereich emotionale und soziale Entwicklung zu fördernden Kinder versucht hat, Unterricht durchzuführen, und man erkennt, dass diese Idee der Individualität des Einzelnen widerspricht.

Die Corona-Pandemie und der Fernunterricht macht es ja für alle Beteiligten gerade nicht einfach. Was muss im Hinblick auf Inklusion besonders beachtet werden?

Besonders beim Lernen auf Distanz sieht man an vielen Schulen eine Rückkehr zu einem stark lehrerzentrierten Unterricht. Selbst wenn die Schule im Präsenzunterricht bereits erfolgreich schülerzentrierte Ansätze durchgeführt hat, ist häufig während des nicht vorhersehbaren Lockdowns im März 2020 der erste Weg digitalen Unterrichts ein lehrerzentrierter Ansatz gewesen. Dies ist den Lehrkräften, die alle ihr Bestes getan haben, auch nicht zu verübeln. Die sichere Form des lehrerzentrierten Unterrichts hat eine Form von Verlässlichkeit und Absehbarkeit geschaffen, die uns insbesondere bei vorheriger eher weniger häufigen Verwendung von digitalen Medien eine vermeintliche Kontrolle des Lernprozesses zurückgegeben hat. Für einige Schüler*innen hat diese lehrerzentrierte Unterrichtsform vor allem deshalb Nachteile, da fehlende Kooperation und Individualisierung sie häufig scheitern lassen.

Zudem wurde im Fernunterricht ein hohes Maß an Selbstständigkeit erwartet. Die Schüler*innen mussten häufig ihre Lernprozesse selbst regulieren, erarbeiten, Lernstrategien ohne Hilfestellungen einsetzen und das eigene Zeitmanagement, sowie die Motivation im Blick behalten. Das hat selbst gute Lerner immer wieder vom Lernen abgehalten. Natürlich spielt auch das häusliche Umfeld eine Rolle, das den Voraussetzungen zum Lernen im schulischen Kontext nicht immer entsprechen konnte.

„Ein differenzierter und individualisierter Unterricht ist in der Vorbereitung häufig aufwändiger, der Effekt ist damit aber auch umso größer“

Wie viel Arbeit und Vorbereitung braucht es, um Unterricht wirklich inklusiv zu gestalten?

Dies ist von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig. Selbstverständlich ist ein differenzierter und individualisierter Unterricht in der Vorbereitung häufig aufwändiger, der Effekt ist damit aber auch umso größer. Insbesondere beim Einsatz digitaler Medien in der Unterrichtsvorbereitung lässt sich viel Zeit einsparen.

Der Rückgriff auf Open Educational Ressources (OER), freien Bildungsmaterialien im Netz erleichtert eine inklusive Arbeit enorm, da ich fertige Unterrichtsmaterialien verwenden kann, die ich nur auf einige oder einen meiner Schüler*innen in der Klasse anpassen muss. Außerdem kommt vermehrt Software auf den Markt, wie bspw. der Worksheet Crafter, die bei der schnellen und effizienten Unterrichtsvorbereitungen durch einfach handhabbare Tools und Generatoren unterstützt. Gleichfalls ist es notwendig den Lernstand der Schüler*innen zu kennen und auch dies wird mir durch digitale Tools immer mehr abgenommen. Lernstände werden mir angezeigt, ggf. Wissenslücken aufgedeckt und ich kann als Lehrkraft überlegen, welche Unterrichtsziele als nächstes bei dem*der Schüler*inverfolgt werden sollten.

Es geht ja nicht ausschließlich darum, dass jeder kleinste Lernschritt bis ins Detail durch Aufgaben von der Lehrkraft vorgefertigt wird. Insbesondere bei projektorientierten oder offenen Unterrichtsformaten sollen die Schüler*innen ihren Lernprozess an vielen Stellen selbst gestalten und sich Inhalte selbstständig erarbeiten. Dafür benötigen einige Schüler*innen Hilfestellungen, die durch digitale Medien geschaffen werden können.

Der eine Schüler benötigt bspw. Unterstützung durch eine Art to-do-Liste, um seine Aufgaben zeitlich besser strukturieren zu können, der oder die andere greift im Sinne von assistiven Medien auf die Bedienungshilfen der Geräte zurück, um sich bspw. einen Text vorlesen zu lassen, oder diktiert eine Geschichte, sodass er selbst nicht mit dem Stift schreiben muss. So können bestimmte Einschränkungen kompensiert und die Kinder Schullizenz unterstützt werden. Ich sehe die Lehrkraft an der Stelle als Organisator für den roten Faden des Unterrichts, sowie gleichzeitig für vielfältige Hilfssysteme, die die Schüler*innen zu erfolgreichem Lernen verhelfen.

Inklusion digital gestalten

Wie kann inklusiver Unterricht auch digital gelingen?

Inklusiver Unterricht ist zum einen geprägt durch ein digitales Wissen der Lehrkraft über digitale Assistenzsysteme und didaktische Einsatzzwecke dieser Tools. Zum anderen aber vor allem durch eine Unterrichtsvorausplanung, die von Vornherein innerhalb einer Unterrichtseinheit berücksichtigt, dass die Schüler*innen verschiedene Formen von Hilfen benötigen, um selbstständig arbeiten zu können. Hierbei ist es von Vorteil zunächst einmal über das zu erreichende Lernziel nachzudenken. Was soll die Schülerin oder der Schüler als nächstes Lernen? Welche Anforderungen bringt der Lerngegenstand mit sich und wie kann ich diesen Lernenden darin unterstützen, dieses Ziel zu erreichen?

Unterrichtsprozesse sollten nicht erst dann verändert werden, wenn Schüler*innen bereits gescheitert sind, sondern es geht vielmehr darum, Hürden und Herausforderungen des Lerngegenstands vorab abzusehen und ihnen präventiv entgegenzuwirken. Die Hilfen sind vielfältig, sie können inhaltlicher Natur sein, sodass sie bswp. asynchron verschiedene Erklärvideos zum Thema bereitstellen, oder basieren auf der Verwendung von Lernstrategien (z.B. im Book Creator visualisierte Lesestrategien zur Erarbeitung eines Sachtextes) oder unterstützen bei der Zeitplanung des Lerninhalte des Einzelnen.

Porträt der Dozentin Lea Schulz Digitalen Unterricht inklusiv gestlaten

Lea Schulz ist Studienrätin am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein. Sie ist dort in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Schulartteam Sonderpädagogik insbesondere für die Fachrichtung Sprache tätig. Sie koordiniert den Bereich „Digitale Medien und Inklusion“ und begleitet Schulen in der digital-inklusiven Schulentwicklung. Davor arbeitete sie als Medienpädagogin in der App- und Softwareentwicklung und baute bspw. die Lernplattform bettermarks mit auf. Ihr Steckenpferd ist die “Diklusion” – digitale Medien und Inklusion sollten in Schule gemeinsam gedacht werden.

Nichts ist erfolgreicher als Erfolg

Was sind Hürden, durch die Kinder im digitalen Unterricht abgehängt werden?

Die Hürden können zunächst einmal durch die Zugänglichkeit zu Hardware entstehen. Dem wurde zum Glück nun durch ein Sofortausstattungsprogramm des Bundes entgegengewirkt. Dennoch sind einige Schüler*innen in Bezug auf die digitale Infrastruktur (WLAN, Geräte, Arbeitsplatz usw.) unterversorgt. Im didaktischen Bereich können wenig strukturierte asynchrone Formen des Unterrichts dazu führen, dass die Schüler*innen nicht die nötige Selbstregulationsfähigkeit mitbringen, um sich ihr Lernumfeld selbstständig zu strukturieren. PDF-Pakete, die per E-Mail für eine ganze Schulwoche versendet worden sind, sind an dieser Stelle besonders wenig hilfreich.

Die beständigen Misserfolge bei der Bearbeitung von Aufgaben, fehlende Hilfen, führen zu weniger erfolgreichem Lernen und gleichzeitig zu einer geringeren Motivation des*der Lernenden. Dabei ist es doch erwiesen: “Nichts ist erfolgreicher als Erfolg” oder auch negativ formuliert: “Wer hat, dem wird gegeben”. Dem müssen wir als Lehrkraft in unserer Unterrichtsvorbereitung begegnen.

„Ich wünsche mir eine Schule, die den Diversitätsansprüchen ihrer Lernenden gerecht werden kann“

Wie sieht deine Version von Unterricht und Schule in der Zukunft aus?

Ich wünsche mir, dass der Begriff “Diklusion” – die Verbindung von digitalen Medien und Inklusion – bald Geschichte sein wird. Ich sehe eine Schule, in der ganz selbstverständlich im realen Raum digitale Medien als ein beständiger Teil des Unterrichts verwendet und reflektiert werden. Ich sehe gleichfalls eine Schule, die den Diversitätsansprüchen ihrer Lernenden gerecht werden kann, die Lernenden mit all ihren unterschiedlichen Kompetenzen zu begegnen weiß, nicht aussondert, sondern Diversität als eine Chance und ein Privileg betrachtet. Solange diese Schule noch in weiter Ferne ist, werde ich den Begriff der Diklusion noch weiter verbreiten und publik machen, in der stetigen Hoffnung auf eine Schule für alle.

Online-Fortbildung:

Digitalen Unterricht inklusiv gestalten

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