Mit agilen Methoden Zukunftskompetenzen stärken
In unserer Kolumne „Das digitale Lehrerzimmer“ diskutiert die Lehrerin Uta Eichborn wie der Einsatz agile Methoden im Unterricht die Zukunftskompetenzen der Schüler*innen stärken kann.
„Schulen müssen endlich der Ort werden, an dem die Schülerinnen und Schüler auf eine von der digitalen Transformation geprägte Lebens- und Arbeitswelt vorbereitet werden.“ Eine solche Forderung können wir derzeit in allen Diskussionen rund um das Thema Schule hören. Die Lösung liegt auf den ersten Blick in der Nutzung digitaler Endgeräte und dem Einsatz vielfältiger Tools im Unterricht. Der Einsatz motiviert die Schülerinnen und Schüler und bereitet ihnen in der Regel große Freude. Um gemeinschaftlich die komplexen Herausforderungen der digitalen Transformation bewältigen zu können, bedarf es neben den digitalen Anwendungskompetenzen aber weiterer Zukunftskompetenzen, die wir durch den Einsatz agiler Methoden im Unterricht fördern können.
Die fobizz Kolumne „Das digitale Lehrerzimmer“
Die fobizz Kolumne „Das digitale Lehrerzimmer“: Einmal im Monat möchten wir Lehrer*innen hier zu Wort kommen lassen, um sich zu einem speziellen Thema zu äußern. Denn in der Diskussion um gute Bildung wird in Deutschland leider viel zu oft über Lehrerinnen und Lehrer geredet anstatt mit ihnen. Wir freuen uns im Rahmen unserer neuen Kolumne auf spannende und inspirierende Perspektiven sowie Einblicke und Meinungen von Lehrkräften rund um das Thema digitale Bildung! Die spezifischen Themen sind von den Lehrkräften frei gewählt und breit gefächert – von Berichten zu Unterrichtsmethoden, digitalen Tools und dem Lehrer*innenalltag bis hin zu ihren eigenen Meinungen zu verschiedenen Themen.
Digitale Transformation – mehr als nur Digitalisierung
Um zu verstehen, was sich hinter dem gewaltigen, digitalen Veränderungsprozess verbirgt, habe ich mich vor einigen Jahren auf den Weg gemacht und zunächst einmal einen Blick in die Arbeitswelt geworfen, in der die digitale Transformation schon seit vielen Jahren in vollem Gang ist und auf die wir unsere Schülerinnen und Schüler am Berufskolleg täglich vorbereiten. In fast allen Unternehmen, die ich besucht habe oder über deren Organisations- und Kulturwandel ich gelesen habe, ging der evolutionäre Prozess mit der Einführung verschiedener agiler Methoden wie Scrum, Kanban oder Design Thinking einher.
Das agile Arbeiten mit dem Rahmenwerk Scrum hat mich bei allen meinen gewonnenen Eindrücken in besonderer Weise inspiriert: In den wenigen Rahmenbedingungen und in der klar strukturierten Vorgehensweise, vor allem aber in den zugrunde liegenden Werten und Prinzipien sah ich Möglichkeiten, diese im Rahmen eines Projektunterrichts auf die Schule zu übertragen. Damit könnte ich neue Möglichkeiten eröffnen, um den Schülerinnen und Schüler den Erwerb von Zukunftskompetenzen im Sinne der 4K (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken) und darüber hinaus auch Kompetenzen wie Selbstorganisation und Verantwortungsübernahme zu ermöglichen.
Agile Methoden sind schon über 70 Jahre alt, richtig bekannt wurde das Thema Agilität aber erst mit dem agilen Manifest, das 2001 aus den Ideen einer Gruppe von Softwareentwicklern entstand. Die Grundidee aller agilen Methoden liegt in der Anpassungsfähigkeit während eines Arbeits- oder Lernprozesses. In wiederkehrenden Schleifen prüft und reflektiert man den Prozess, um Fehler früh zu identifizieren und Korrekturen im Prozess zu ermöglichen.
Wer schreibt heute?
Uta Eichborn ist Lehrerin am Berufskolleg und Certified Scrum Master. Seit über 20 Jahren unterrichtet sie in Notebookklassen und kann sich nicht mehr vorstellen, ausschließlich analog zu unterrichten. Mit dem Ziel, die SchülerInnen auf eine durch den digitalen Wandel geprägte Arbeits- und Lebenswelt vorzubereiten, hat sie agile Methoden wie Scrum, Kanban und Design Thinking auf das Lernen in der Schule übertragen und stellt dabei Selbstorganisation, Verantwortung und Partizipation der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt. Sie hat Wirtschaftspädagogik studiert und unterrichtet in den Fächern Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre und Projektmanagement.
Das agile Rahmenwerk Scrum
Das Rahmenwerk ist leicht zu verstehen und umfasst im Kern 3 Rollen, die die beteiligten Personen während des Prozesses einnehmen, 5 Ereignisse, die während des Prozesses stattfinden und 3 Ergebnisse, die während des Prozesses entstehen.
Die Projektarbeit der Schülerinnen und Schüler wird mit Scrum in kleine Etappen, die sogenannten Sprints, die jeweils vor Beginn im Sprint Planning geplant werden, eingeteilt. Die Schülerinnen und Schüler schätzen dabei selbst ein, was sie im jeweils folgenden Sprint erledigen wollen, um das Projektziel zu erreichen. Sie übernehmen mit dieser Selbstverpflichtung Verantwortung für den individuellen Lernprozess und den des gesamten Teams. Natürlich haben wir im Unterricht vorab alle gemeinsam das Projektziel besprochen, festgelegt, welches Ergebnis erreicht werden soll und Aufgaben formuliert, die erledigt werden müssen.
Während eines Sprints lernt und arbeitet das Schülerteam vollständig selbstorganisiert. Grundlage dieser Selbstorganisation ist das Scrum Board, auf dem der gesamte Arbeits- und Lernprozess des Schülerteams visualisiert und damit für alle am Projekt Beteiligten transparent wird. Das Scrum Board ist vom Aufbau an ein Kanban Board angelehnt und besteht im Kern aus drei Spalten: ToDo, Doing und Done. Das Scrum Board zeigt auf einen Blick, welche Aufgaben im Team zu erledigen sind, welche gerade in Bearbeitung sind und welche Aufgaben bereits erledigt sind, um das jeweilige Sprint-Ziel zu erreichen. Jeden Tag zu Arbeits- bzw. Unterrichtsbeginn trifft sich das Schülerteam am Board zum Daily Stand up. Zweck des Treffens, das zur besseren Fokussierung tatsächlich im Stehen stattfindet, ist die kontinuierliche Überprüfung des Arbeitsfortschritts und die kurze Planung der anstehenden Unterrichtseinheit. Jedes Teammitglied beantwortet drei Fragen:
- Was habe ich in der letzten Unterrichtseinheit gemacht?
- Was werde ich heute tun?
- Welche Herausforderungen habe ich?
Anhand der drei Fragestellungen sind alle Teammitglieder involviert, stellen ihren Arbeitsstand vor und bringen ihre Ideen und die Bereitschaft zur Problemlösung ein.
Nach jedem Sprint, der je nach Wochenstundenzahl beispielsweise ein oder zwei Wochen dauern kann, stellt das Schülerteam dem Lehrer in seiner Rolle als Product Owner, das Zwischenprodukt, das sogenannte Produktinkrement, vor und gemeinsam wird geprüft, ob das Schülerteam hinsichtlich des Arbeitsauftrags auf dem richtigen Weg ist und was im nächsten Sprint verbessert werden muss. Vereinbarungen werden notiert und am Scrum Board gesichert, so dass die Rückmeldungen auch einen hohen Grad an Verbindlichkeit haben. Anschließend trifft sich das Schülerteam zu einer kurzen Retrospektive, in der die Art und Weise wie das Team während des Sprints zusammengearbeitet hat, reflektiert wird. Die Schülerinnen und Schüler sprechen über ihre subjektiven Wahrnehmungen hinsichtlich der Arbeitsatmosphäre, der Kommunikation und Interaktion oder auch der eingesetzten digitalen Tools. Dabei haben sie immer perspektivisch die Verbesserung der Zusammenarbeit im nächsten Sprint im Blick.
Auf der Basis des Feedbacks zum Produkt und der anschließenden Retrospektive wird dann wieder in einem Sprint-Planning der zweite Sprint geplant und anschließend am Projekt weitergearbeitet.
Ihr habt es in dieser kurzen Ausführung vielleicht gemerkt: Die Grundidee aller agiler Methoden liegt in der Anpassungsfähigkeit während eines Prozesses. In den Iterationen drückt sich die positive Fehlerkultur agiler Methoden aus. Die frühe Sichtbarkeit und Möglichkeit der Korrektur auf Grundlage des frühen Feedbacks geht erfahrungsgemäß mit besseren Ergebnissen und einer hohen Motivation der Schülerinnen und Schüler einher.
Agile Elemente im Unterricht integrieren – probiere es einfach mal aus
Probiere doch einfach mal aus, agile Elemente in deinem Unterricht umzusetzen. Das muss nicht immer direkt ein Projekt sein, bei dem das ganze Rahmenwerk Scrum zum Tragen kommt. Die folgenden drei Elemente führe ich bei Klassen ein, die noch nie etwas von Agilität gehört haben. Das funktioniert tatsächlich sehr unkompliziert.
1. Transparenz und Selbstorganisation durch das Arbeiten mit dem Kanban Board
Wenn die Schülerinnen und Schüler den Auftrag haben, zu einem Thema ein Produkt zu erstellen, wie zum Beispiel einen kurzen Erklärfilm, dann kannst du Ihnen zeigen, wie sie ihren Arbeitsprozess mit einem Kanban Board planen und dokumentieren. Die Art der Visualisierung und der dadurch resultierende hohe Grad an Transparenz, unterstützt die Kompetenz zur Selbstorganisation der Schülerinnen und Schüler und kann die Kultur des Lernens in einer Klasse signifikant verändern.
Die klassische Projektarbeit in der Schule gleicht ja manchmal der Arbeit auf einer einsamen Insel, auf der die Schülerinnen und Schüler erst Besuch dulden, wenn das Projekt abgeschlossen ist. Diese Art von Transparenz, die an der Grenze des eigenen Teams endet, kann damit überwunden werden. Es kann eine didaktische Umgebung entstehen, in der wir als Lehrerinnen und Lehrer wahrnehmen, was bei Schülerinnen und Schüler passiert und wir die Möglichkeit haben, darauf zu reagieren.
Je nach Ausgestaltung des Kanban Boards können kollektive und individuelle Schülerleistungen sichtbar gemacht werden, die uns als Lehrer die Möglichkeit einer zielgerichteten Betreuung und Lernbegleitung geben und Grundlage für eine zeitgemäße Bewertung sein können, die nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Prozess des Arbeitens und Lernens einbeziehen.
2. Mit dem Daily Stand up Verantwortung übernehmen
Wenn alle gut mit dem Kanban Board vertraut sind, kannst du das Daily Stand up einführen. Das dauert nur maximal 5 Minuten und wird sehr schnell von den Schülerinnen und Schülern angenommen, weil sie merken, dass die Organisation des Teams einfach besser funktioniert. Mit der Beantwortung der drei Fragen und dem Blick auf das Board entscheiden die einzelnen Teammitglieder, welche Aufgaben unabhängig voneinander bearbeitet werden können und welche aufeinander aufbauen.
Es werden neue Aufgabenstellungen, die im Prozess der letzten Unterrichtseinheit entstanden sind, erzeugt und in die To Do Liste aufgenommen. Das sichtbare „Wandern“ der Klebezettel in die Spalte Doing symbolisiert „ich übernehme Verantwortung für die Erledigung dieser Aufgabe“ oder „ich habe die Aufgabe erledigt“, wenn der Zettel in die Spalte Done gehangen wird. In der Übernahme von Verantwortung sieht die OECD im Lernkompass 2030 sogar eine der drei wichtigen Transformationskompetenzen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.
3. Mit der Retrospektive Beziehungen stärken
Nach der Gruppenarbeit lässt du die Schülerinnen und Schüler eine Retrospektiven durchführen. Für noch unerfahrene Schülerinnen und Schüler ist es hilfreich, die Perspektive zunächst nur auf sich selbst zu lenken und Fragestellungen wie „Welche Aufgabe ist mir besonders gut gelungen und warum?“ Mit zunehmender Erfahrung und vertrauensvollen Beziehungen können die Schülerinnen und Schüler sich auch gegenseitig unter Einhaltung grundlegender Feedbackregeln Feedback geben. Die Umsetzung der positiven Fehlerkultur über die fachliche Ebene hinaus kann zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler beitragen, da sie ihre persönlichen Stärken erkennen können, selbstbewusster und erfolgreicher werden und sich stetig weiterentwickeln.
Übrigens: Diese agilen Elemente eignen sich auch zur Umsetzung im Distanzunterricht. Die Teams führen ihre Kanban Boards dann digital (z.B. www.cryptpad.fr) und treffen sich in einer Videokonferenz zum Daily Stand up.
Mit jeder Umsetzung kleiner agiler Elemente gibst du den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, echte Zukunftskompetenzen zu entwickeln und sie damit auf eine von der digitalen Transformation geprägte Lebens- und Arbeitswelt vorzubereiten. Klare Regeln, mit denen Selbstorganisation der Schülerinnen und Schüler und ein transparenter Arbeitsprozess ermöglicht wird, können allen Beteiligten mindestens so viel Sicherheit geben wie die minutengenaue Planung eines lehrerzentrierten Unterrichts. Gemeinschaftlich können die Schülerinnen und Schüler komplexe Herausforderungen bewältigen und in einem klar strukturierten und dennoch freien Prozess unterschiedliche Lösungen präsentieren können. Digitale Endgeräte und Tools können sie dabei selbstverständlich unterstützen.
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fobizz Kolumne: Der Multimediaberater schafft sich ab
Im Rahmen des Digitalpakts haben sehr viele Schulen sehr viel Hardware angeschafft – Desktoprechner, Tablets, Laptops etc. Die Anschaffung der Geräte ist logischerweise essentiell für deren Nutzung, aber sie ist nur der erste Schritt. Beinahe genauso wichtig ist die Schulung der Kolleg*innen. In unserer Lehrer*innen Kolumne „Das digitale Lehrerzimmer“ hat Sebastian Eisele seine Erfahrungen zum Thema zusammengefasst.