Lernschwierigkeiten erkennen & begegnen
Im Interview mit Dr. Nicole J. Fritzler erfährst du, wie du Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten gezielt unterstützen kannst – inklusive praxiserprobter Tools für die alltägliche Begleitung im Unterricht.
Im Interview mit Dr. Nicole J. Fritzler erfährst du, wie du Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten gezielt unterstützen kannst – inklusive praxiserprobter Tools für die alltägliche Begleitung im Unterricht.
Dr. Nicole J. Fritzler: Eine der größten Herausforderungen ist es, eine Balance zu schaffen zwischen dem geplanten Curriculum und individueller Förderung – vor allem mit Blick auf die große Heterogenität der Schülerschaft (jede*r bringt unterschiedliche Hintergründe, Voraussetzungen und Bedürfnisse mit – dem gerecht werden zu können, ist äußerst herausfordernd). Lehrkräfte wissen oft, was einzelne Schüler*innen im Allgemeinen brauchen, aber es fehlt an Zeit, Ressourcen, spezifischem Wissen, sowie praxisnahen Werkzeugen, um individuelle Förderung im laufenden Unterricht einfach umzusetzen.
Hinzu kommt, dass Lernschwierigkeiten selten isoliert auftreten – emotionale Belastung, Motivationsprobleme, Beeinträchtigungen im Arbeitsgedächtnis usw. machen differenziertes und individualisiertes Arbeiten komplex. Ohne systematische Diagnostik, Mikro-Interventionen und eine enge Kooperation mit den Eltern sowie weiteren Fachkräften bleibt Potential auf der Strecke.
„Schüler*innen mit einer Lese-/Rechtschreibstörung fällt es zum Beispiel häufig schwerer, auditiv präsentierte Informationen länger zu behalten und zu verarbeiten.“
Dr. Nicole J. Fritzler: Das Arbeitsgedächtnis ist sozusagen wie unser „mentaler Notizblock“. Es ist dafür zuständig, kurzfristig Dinge merken und auf der Basis dessen planen und handeln zu können – der Knackpunkt ist hier, dass es nur ein begrenztes Fassungsvermögen hat und schnell “überladen” kann, was dann in Handlungsbeeinträchtigungen, z.B. vermeintliches “Nicht-Zuhören” oder ineffektiven Lernprozessen resultiert.
Besonders Betroffene mit Lernschwierigkeiten sind dahingehend vermehrt mit Herausforderungen konfrontiert: Schüler*innen mit einer Lese-/Rechtschreibstörung fällt es zum Beispiel häufig schwerer, auditiv präsentierte Informationen länger zu behalten und zu verarbeiten. Bei Schüler*innen mit AD(H)S kommt es oft zu einem „falschen Filtern“ relevanter und irrelevanter Informationen, wobei relevante Informationen häufig weniger gut behalten werden.
Wenn wir Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten individuell und effektiv unterstützen möchten, dann müssen wir diese kognitiven Prozesse verstehen und im Lernalltag berücksichtigen – denn nur auf der Basis dessen kann effektives Lernen stattfinden.
Dr. Nicole J. Fritzler: Erst einmal geht es vor allem darum, das eigene Wissen sowie die Haltung in Bezug auf Lernschwierigkeiten und mögliche Unterstützungsmaßnahmen kritisch zu hinterfragen und ggf. anzupassen, um individuelle Unterstützung überhaupt möglich zu machen. Kann ich Lernschwierigkeiten erkennen und voneinander unterscheiden? Denke ich, dass sich ein/e Schüler*in mit Lernschwierigkeiten in den betroffenen Kompetenzbereichen überhaupt verbessern kann? Weiß ich, dass und wie ich den/die Schüler*in z.B. im Rahmen eines Nachteilsausgleichs effektiv unterstützen kann? Kann ich die Eltern z.B. in Bezug auf außerschulische Unterstützung und häusliche Lernprozesse fundiert beraten?
Häufig höre ich in meinen Beratungen und Supervisionen, dass sich Lehrkräfte in unterschiedlichen Bereichen unsicher fühlen: ob sie zum Beispiel betroffenen Schüler*innen durch Nachteilsausgleiche “Vorteile” verschaffen würden oder es überhaupt “in ihrer Hand” liege, etwas zu verändern. Sich zu öffnen für Inklusion, für Veränderung und dafür, dass man als Lehrkraft einen entscheidenden “Unterschied machen kann”, ist mit Blick auf eine effektive Unterstützung fundamental.
Ist diese Basis gegeben, so ist eine der einfachsten “Methoden” individuelles, ressourcenorientiertes Feedback zu geben, Anstrengung wertzuschätzen, von dem/der Schüler*in kontrollierbare Aspekte als Ursachen für Erfolge und Misserfolge zu benennen und damit den Leistungsdruck zu minimieren (by the way: sicherlich förderlich für alle Schüler*innen) – und auch die Eltern dahingehend zu sensibilisieren und zu schulen, auch mit Blick auf häusliche Lernsituationen. Nur, wenn Elternhaus und Schule vor allem bei vorliegenden Lernschwierigkeiten eng kooperieren, kann die schulische und auch die psychische Entwicklung der betroffenen Schüler*innen nachhaltig positiv beeinflusst werden.
Dr. Nicole J. Fritzler: Neben dem eben genannten Thema des “förderlichen Feedbacks” stelle ich in unterschiedlichen Bereichen sogenannte “Symbolkarten” vor. Symbolkarten sind kleine mit Bildern/kurzen Sätzen gestaltete Kärtchen, die in Zusammenarbeit mit dem/der Schüler*in erarbeitet und als kognitiver Anker im Unterricht eingesetzt werden. Das Besondere an diesen Karten ist die Einfachheit: klare, selbst ausgesuchte Bilder, die von dem/der Schüler*in direkt mit einem bestimmten Verhalten in Verbindung gebracht werden können und ganz kurze, einfache oder gar keine Sätze – je nach Lernstand der einzelnen Schüler*innen. Sie sind vielfältig einsetzbar: zur Entlastung des Arbeitsgedächtnisses, zur Förderung der Impulskontrolle, z.B. “Ich warte bis ich an der Reihe bin.”, “Ich höre bis zum Ende zu.”, zur Festigung automatisiert auszuführenden Verhaltens, z.B. “Nach dem Schreiben benutze ich meine Rechtschreibprüfungs-Karte.” usw. Durch das Vorhandensein der Symbolkarte werden die Schüler*innen daran erinnert, welches Verhalten in diesem Moment ausgeführt oder nicht ausgeführt werden soll – das entlastet kognitive Prozesse und hilft bei der Verhaltenssteuerung.
Gleichzeitig fördern wir damit das Autonomieerleben, weil der/die Schüler*in mithilfe der Symbolkarten Situationen selbstständig meistern kann, ohne dass ihm/ihr das Suchen nach passenden Lösungen abgenommen oder er/sie überfordert wird. Am besten wird gemeinsam mit dem/der Schüler*in für eine Lern- oder Unterrichtssituation eine Symbolkarte ausgesucht/erarbeitet. Diese Symbolkarte wird dann in den nächsten vereinbarten Situationen immer verwendet, bis sich das Verhalten merklich verbessert hat und der/die Schüler*in das Gefühl hat, dass er/sie diese Verhaltensweisen nun auch ohne Hilfestellung umsetzen kann. In meiner lerntherapeutischen Arbeit klappt das mit den Schüler*innen in unterschiedlichen Bereichen total gut – sie sind schnell gemacht, den Schüler*innen macht es Spaß, weil sie etwas selbstständig und “für sich” tun, sie können dann auch in der Schule und zu Hause genutzt werden und das auch ziemlich “versteckt”, was vielen Schüler*innen wichtig ist. In der Fortbildung zeige ich viele Beispiele und stelle auch vorgefertigte Symbolkarten sowie Blanko-Vorlagen zur Verfügung.
Dr. Nicole J. Fritzler: Zuerst möchte ich meine Wertschätzung und Dankbarkeit für die Offenheit und das Engagement dieser Lehrkräfte ausrichten. Bezüglich der individuellen Unterstützung von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten muss noch ganz viel Veränderung und Wachstum stattfinden, damit oben benannte Werte und Unterstützungsstrukturen in unserer Gesellschaft und im Bildungssystem endlich nachhaltig verankert werden. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist der erste Schritt dahin.
Darüber hinaus möchte ich als eine zentrale Botschaft formulieren, keine Angst oder Scheu vor zu schwammig formulierten rechtlichen Vorgaben zu haben. Es liegt im individuellen Ermessensspielraum der einzelnen Lehrkraft, ob und wie Unterstützungsmaßnahmen umgesetzt werden – sei es im Hinblick auf Nachteilsausgleiche, die Kooperation mit Eltern oder Fachpersonal. Betroffene Schüler*innen brauchen diese individuelle und breit angelegte Unterstützung, um beim Lernen und in ihrer akademischen Entwicklung erfolgreich zu sein, gleichberechtigt an unserer Gesellschaft teilhaben zu können und um psychisch gesund zu bleiben.
Und: Lehrkräfte sollten auch bei dem Thema Lernschwierigkeiten stetig auf dem Laufenden bleiben und sich regelmäßig fortbilden. Erstens ist in diesem Bereich viel Bewegung und es verändern sich rechtliche Grundlagen, Möglichkeiten der Unterstützung, Klassen/Schulen werden immer heterogener, was erweiterte Perspektiven und Maßnahmen erfordert. Zweitens gibt es aber auch immer mehr digitale und KI-gestützte Hilfestellungen für Lehrkräfte, z.B. zur Gestaltung individueller Nachteilsausgleiche, die die Ressourcen der Lehrkräfte schonen, ökonomisch anwendbar sind und dann wirklich passgenau bei den betroffenen Schüler*innen ankommen.
Seid mutig, es ist total viel möglich! Und wenn es euch an Ideen fehlt, ihr nach ressourcenschonenden Unterstützungsmöglichkeiten für den Unterricht und für Nachteilsausgleiche und/oder nach Rückversicherung sucht – fühlt euch eingeladen, mir zu schreiben! Gerne teile ich weitere Ideen und Impulse mit euch!