Wilder denken, wirksam handeln – ein Interview mit Marina Weisband
Erfahre von Marina Weisband, wie Partizipationsprojekte wie aula an deiner Schule umgesetzt werden können und warum Demokratiebildung ein Ziel von Schule sein sollte.
Erfahre von Marina Weisband, wie Partizipationsprojekte wie aula an deiner Schule umgesetzt werden können und warum Demokratiebildung ein Ziel von Schule sein sollte.
Liebe Marina, dein neues Buch trägt den Titel “Die neue Schule der Demokratie” – Was hat dich dazu inspiriert, ein Buch über die Förderung von Demokratie an Schulen zu schreiben?
Marina Weisband: Ich werde in der Öffentlichkeit zu allem befragt, außer zu meiner täglichen Arbeit, der ich seit zehn Jahren nachgehe. Dabei ist es jetzt so wichtig wie nie, darüber zu sprechen, wie wir Demokratie nicht nur bewahren, sondern auch weiterentwickeln können. Dieses Buch soll auch Trost für all jene sein, denen die Zeiten grimm und ohne konkrete Handlungsmöglichkeiten erscheinen.
In deinem Buch stellst du dein Projekt aula vor. Könntest du uns näher erläutern, wofür die Abkürzung aula steht und was dieses Projekt genau umfasst?
Marina Weisband: “aula” steht für “ausdiskutieren und live abstimmmen” – das ist genau, was die Schüler*innen an einer aula-Schule tun. Jede weiterführende Schule kann zu einer aula-Schule werden. Sie entschließt sich, ihre Schüler*innen dauerhaft, verbindlich und umfassend an der Gestaltung ihres Schulalltags zu beteiligen. Dafür stellen wir eine Onlineplattform zur Verfügung, auf der alle ihre Ideen einstellen, diskutieren, ausarbeiten und abstimmen können. Außerdem didaktisches Material, das diese praktische Demokratieerfahrung reflektieren hilft. Und die Vorlage eines Vertrags, der garantiert, dass die Schüler*innen ihre beschlossenen Ideen auch wirklich umsetzen dürfen.
Warum sollte jede Schule aula nutzen? Was sind die Hauptvorteile dieses Ansatzes für die Schüler*innen und die Schulgemeinschaft?
Marina Weisband: Wer wir in der Gesellschaft sind, das lernen wir während des Aufwachsens. In der Schule lernen wir über Jahre: wir können nur wenig über unsere Umwelt bestimmen, wir müssen Anforderungen erfüllen und uns gut Wissen merken. So kann man leicht zu dem Eindruck kommen, man sei lediglich “Besucher” oder “Konsument” von Gesellschaft. Ich aber will, dass Menschen hineinwachsen in die Rolle von Gestalter*innen. Dass sie sich verantwortlich fühlen für sich und andere. Das ist der Kern von Demokratie. So zu leben ist gesund für die Psyche, bereitet gut auf den Arbeitsmarkt der Zukunft vor und macht vor allem resiliente Demokrat*innen.
Gibt es einen besonders bewegenden Moment aus deinen Erfahrungen mit aula-Projekten, an den du gern zurückdenkst?
Marina Weisband: Schüler*innen schaffen es ständig, mich zu überraschen. Sie machen etwas eigenes aus dem Projekt. Bewegend fand ich zum Beispiel die Einführung eines gemeinsamen wöchentlichen Stufenfrühstücks an einer Schule, das die Schulgemeinschaft näher zusammen gebracht hat. Oder als an einer anderen Schule die Schüler*innen buchstäblich das Büro des Schulleiters belagert haben, bis der die vorher vereinbarte Umsetzung einer Idee auch erlaubt hat.
Der Untertitel deines Buches lautet “Wilder denken, wirksam handeln” – Wie können Lehrkräfte trotz eines vollen Lehrplans Raum und Zeit schaffen, um die Selbstwirksamkeit der Schüler*innen zu fördern?
Marina Weisband: Zeit ist das knappste Gut der Schule. Praktisch gehen wir das mit verschiedenen Schulen verschieden an. Sie schaffen die didaktische Begleitung des Projekts in der Klassenratsstunde, in einem Teil des Fachunterrichts oder in den Pausen. Theoretisch muss aula nicht viel Zeit einnehmen – doch je mehr Zeit in Reflexion und Gespräch man investiert, desto tiefer ist das Lernen über die eigene Rolle und die Bedürfnisse der anderen. Dass Schule nicht genug Raum dafür hat, ist ein politischer Skandal. Deshalb wirke ich auch auf politischer Ebene für mehr Personal an den Schulen, weniger Prüfungen und Noten.
Du wirst oft gefragt, ob du nicht wieder in die Politik gehen möchtest, um dort etwas zu bewirken. Du verneinst dies oft und weist darauf hin, dass du in den bestehenden Strukturen im Bildungsbereich nicht so agieren kannst, wie du es gerne würdest. Wenn du jedoch die Möglichkeit hättest, eine Schule von Grund auf neu zu gestalten, ohne Rücksicht auf Lehrpläne, wie sähe deine Traumschule aus?
Marina Weisband: Varianten meiner Traumschule gibt es schon in der Praxis. Wir wissen ja seit vielen Jahren, wie Schule besser gehen könnte. An den Montessori-Schulen, den demokratischen Schulen, den Modellschulen, können wir das ganz praktisch beobachten. Schule mit offenem Anfang, viel Selbstbestimmung über das eigene Lernen, keine Noten sondern Feedback, kein Hetzen von Prüfung zu Prüfung sondern ein Nachgehen der eigenen Neugier. Klassen- und fachübergreifend lernen und sowohl Lernender als auch Lehrender sein. Nicht zu früh morgens mit dem Lernen anfangen und sich beim Lernen bewegen – die Psychologie hat die Nützlichkeit all dessen längst nachgewiesen. Es fehlen Mut und Geld im System.
Du erwähnst, dass aula auch außerhalb des schulischen Kontextes Beachtung finden kann, beispielsweise durch die Durchführung lokaler Abstimmungen in Gemeinden. Gibt es bereits konkrete Beispiele hierfür?
Marina Weisband: Wir haben aula bereits in Jugendparlamenten eingesetzt und in Vereinen. Es wurde sogar – so habe ich gehört – mal ein Arbeitskampf per aula organisiert. Im Prinzip eignet es sich überall da, wo eine feste Gruppe von Menschen, die sich persönlich kennen, über eine längere Zeit einen gemeinsamen Lebensraum gestalten.
Welchen Ratschlag würdest du Lehrkräften geben, um die Förderung von Demokratie auch im kleinen Rahmen umzusetzen?
Marina Weisband: Ich höre oft, dass man in der Schule sehr wenig Freiheiten hat. Das stimmt bedingt. Es ist ein enges System, aber oft macht man es sich zu eng. Viele Dinge sind möglich, wenn man sie einfach tut. Dafür ist es gut, einfach zu machen und lieber um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis. Nutzt alle Freiheiten, die ihr habt, und füllt sie mit der Frage: “Was wäre, wenn es mir wirklich darauf ankäme, selbstwirksame und verantwortungsvolle junge Menschen zu entlassen?”