Lernkompass 2030: Weltverbesserung durch Bildung
Wie können Kinder bzw. Lernende für die Anforderungen der Zukunft gewappnet werden? Der „Lernkompass 2030“ soll ein Rahmenkonzept des Lernens darstellen und will eine Vision für die Zukunft der Bildung bieten. Erarbeitet wurde der Kompass von Expert*innen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Bildungsexperte Jöran Muuß-Merholz hat den Kompass kürzlich vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Im Interview erklärt er die zentralen Punkte des Lernkompasses und inwiefern dieser die Welt verbessern will.
„Ich halte den Aspekt für besonders wichtig, dass Schüler*innen Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen“
fobizz: Wir alle wissen, was ein Kompass ist. Wie würdest du in möglichst einfachen Worten beschreiben, was der “Lernkompass 2030” der OECD ist?
Jöran Muuß-Merholz: Die Grundidee ist: In der Zukunft – und eigentlich auch schon in der Gegenwart – müssen Schüler*innen in unbekanntem Terrain navigieren können. Sie müssen sich selbstständig, sinnvoll und verantwortungsbewusst orientieren können – und nicht nur Anweisungen und Anleitungen folgen. Die Metapher des Kompasses soll das deutlich machen. Es geht dabei übrigens sowohl um die Inhalte als auch die Formen des Lernens.
Der Lernkompass besteht aus den Komponenten „Student Agency“, „Transformationskompetenzen“, „Lerngrundlagen“, „Wissen“, „Skills“, „Haltungen und Werte“ sowie dem „Antizipations-Aktions-Reflexions-Zyklus“.
Was ist unter Student Agency zu verstehen?
Der Lernkompass 2030 zeichnet das Bild von verantwortlich denkenden und handelnden jungen Menschen. Ich zitiere: „Es geht darum, selbstbestimmt zu handeln, anstatt von anderen bestimmt zu werden; die eigene Umwelt zu gestalten, anstatt sie von anderen gestalten zu lassen; verantwortungsvoll zu entscheiden und zu wählen, anstatt vorgegebene Entscheidungen anderer hinzunehmen.“ Ich persönlich halte den Aspekt für besonders wichtig, dass Schüler*innen (und übrigens auch Erwachsene) Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen.
„Well-Being“ als Alternative zum einseitig ökonomisch orientierten Wachstumsbegriff
Neben Lesen, Schreiben und Rechnen gehören im 21. Jahrhundert weitere Fähigkeiten zu den Lerngrundlagen. Welche sind das laut Lernkompass?
Bei „Lerngrundlagen“ haben wir uns in der Übersetzung schwergetan. Im Original ist von „core foundations“ die Rede. Es geht also um einen Kern von Lernzielen und ein Fundament für das weitere Lernen. Der Lernkompass fasst darunter die Fähigkeiten zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, datenbezogene und digitale Literalität, physische und geistige Gesundheit sowie soziale und emotionale Skills.
Aufbauend auf diesen Grundlagen sollen Lernende Kompetenzen entwickeln. Kompetenz wird im Lernkompass als ein Konstrukt aus Wissen, Skills, Haltungen und Werten beschrieben. Warum sind Haltungen und Werte im Jahr 2030 so wichtig?
Dazu muss ich kurz ausholen: Der Lernkompass 2030 erscheint einerseits als eine ziemlich nüchterne, manchmal fast technokratische Angelegenheit. Aber sein Ausgangspunkt ist schon so etwas wie „Weltverbesserung durch Bildung“, auch wenn dieses Wort nie vorkommt. Stattdessen wird auf das Konzept „Well-Being“ aufgebaut. Die deutsche Übersetzung „Wohlbefinden“ oder „Wohlergehen“ klingt da irgendwie nach Gefühlen und Befindlichkeiten. Aber darum geht es nicht. Das Konzept von Well-Being soll stattdessen den Fortschritt einer Gesellschaft messbar machen. Es soll Alternative und Erweiterung zum einseitig ökonomisch orientierten Wachstumsbegriff sein.
Dazu wird Well-Being in elf Bereichen beschrieben, z. B. Work-Life-Balance, Bildung, zivilgesellschaftliches Engagement, subjektive Lebenszufriedenheit oder auch Wohnverhältnisse. Diese Bereiche beschreibt der Lernkompass explizit in einem engen Zusammenhang mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) für 2030 der Vereinten Nationen. Wenn man sich das als Hintergrundfolie des Lernkompasses denkt, dann wird deutlich, dass es in der Bildung nicht nur um Wissen und Kompetenzen, sondern eben auch um Haltungen und Werte geht.
Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge und Geschäftsführer der Agentur J&K – Jöran und Konsorten. Damit übernimmt er Projekte im Bereich Bildung, Lernen und in der digitalen Welt. Seit etwa 20 Jahren beschäftigt er sich im Schwerpunkt mit digitalen Medien im Bereich der Bildung. Muuß-Merholz bloggt und podcastet auf joeran.de.
Der Lernkompass 2030 als Navigationshilfe in Richtung Weltverbesserung
Vor allem die “Transformationskompetenz” fällt beim Lernkompass 2030 ins Auge. Was ist damit gemeint? Gibt es konkrete Beispiele?
Auch hier hilft es, sich den Lernkompass als Navigationshilfe in Richtung Weltverbesserung vorzustellen. Für solche Veränderungen werden drei sogenannte „Transformationskompetenzen“ vorgestellt:
1. „Schaffung neuer Werte“: Das hat mit Kreativität, Sinnhaftigkeit und kritischem Denken zu tun.
2. „Ausgleich von Spannungen und Dilemmata“: Dazu gehört der Umgang mit Komplexität und Mehrdeutigkeit auf Basis von Empathie und Respekt.
3. „Verantwortungsübernahme“: Da geht es um die angesprochenen Werte und Haltungen in Bezug auf das eigene Handeln, gegenüber anderen und der Welt insgesamt.
Nun zum „Antizipations-Aktions-Reflexions-Zyklus“. Damit ist ein Lernprozess gemeint, der sich immer wieder wiederholt und vor allem darauf abzielt, dass Lernende ihr Denken reflektieren und weiterentwickeln. Wie durchlaufen Lernende diesen Prozess und inwiefern müssen sie durch Lehrende dabei unterstützt werden?
An dieser Stelle mache ich es mir einfach und zitiere aus der Zusammenfassung zum OECD-Lernkompass: „Der Antizipations-, Aktions- und Reflexionszyklus (AAR-Zyklus) ist ein iterativer Lernprozess, in dem die Lernenden ihr Denken kontinuierlich verbessern und somit zielgerichtet und verantwortungsvoll handeln. In der Phase der Antizipation überlegen die Lernenden, wie sich ihre heutigen Handlungen auf die Zukunft auswirken können. In der Phase der Aktion entwickeln die Schülerinnen und Schüler den Willen und die Fähigkeit, ihr Handeln auf das allgemeine Wohlergehen auszurichten. In der Phase der Reflexion verbessern die Lernenden ihr Denken und dies führt dazu, dass sie besser für ihr persönliches Wohlbefinden und das Wohlergehen der Gesellschaft und der Umwelt eintreten.“
Digitale Transformation und die Neuausrichtung von Bildung
Inwiefern kann der Lernkompass für Schüler*innen eine Hilfestellung sein und was können Lehrkräfte konkret in ihrem Unterrichtsalltag umsetzen?
Es kann gut sein, dass im Lernkompass einige Anregungen für den Alltag zu finden sind. Aber der Lernkompass will vor allem einen Rahmen für mittel- und langfristige Überlegungen bieten, wie Gesellschaften für sich Schule, Bildung und Lernen ausrichten. Der Grundgedanke ist nicht, dass alle Schulsysteme der Welt die Konzepte aus dem Lernkompass übernehmen. Aber der hier geschaffene Rahmen und die Begrifflichkeiten können Diskussionen anregen und strukturieren.
Heutzutage werden Lernende vermutlich eher eine Kompass-App als Kompass besitzen. Welchen Stellenwert haben digitale Kompetenzen im Lernkompass 2030?
Im Lernkompass wird eine „datenbezogene“ und eine „digitale“ Kompetenz unterschieden. Beide gehören zu den kognitiven Grundlagen, so wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Vielleicht ist genauso wichtig: Die digitale Transformation spielt eine zentrale Rolle bei der Begründung, warum wir uns überhaupt mit einer Neuausrichtung unserer Bildungsziele befassen müssen. In der Einleitung werden drei globale Trends benannt: Digitalisierung, Klimawandel und künstliche Intelligenz sind so markante Umbrüche, dass sie sowohl die Ziele als auch die Methoden von Bildung grundlegend infrage stellen. Und hier will der Lernkompass Antworten anbieten.
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